Vom Pech verfolgt? Nein, vom Schicksal markiert.
Manche Leute gewinnen im Lotto. Andere ziehen das goldene Ticket oder finden das vierblättrige Kleeblatt im Rasenmeer. Ich? Ich habe eine andere Gabe. Eine Superkraft, die sich tief in den Teigschichten meiner Existenz verbirgt. Ich bin der Statistik-Killer. Der menschliche Seismograph der Backkunst.
Da steht sie nun auf dem Kaffeetisch: Die Kirsch-Tarte. Ein Meisterwerk, mit Liebe selbst gebacken. Wir sitzen in vertrauter Runde, in der Familie beisammen, sechs Leute. Es wurde großzügig geplant: Zwölf Stücke. Zwei für jeden. Ein Nachmittag voller Sicherheit, denkt man.
Die erste Runde verläuft ereignislos. Ein munteres Geplapper erfüllt den Raum. Man tauscht die neuesten Geschichten aus. Fotos eines Ausflugs werden gezeigt; man schaut gemeinsam auf Landschaften, lachende Gesichter und ferne Horizonte, deren Bilder man zugeschickt bekommen hat. Die Kaffeetassen klappern im Takt der familiären Vertrautheit. Sechs Leute kauen auf weichem Biskuit und loben die Backkünste. Die Gefahr scheint gebannt. Der Endgegner Kern – vermutlich gar nicht anwesend.
Doch dann… die zweite Runde. Noch sechs Stücke liegen auf der Platte. Man ist gerade in die nächste Erzählung vertieft. Ich greife zu. Mein zweites Stück. Es sieht unschuldig aus, fast schon demütig unter seiner Sahnehaube. Ich führe die Gabel zum Mund, schließe die Augen für diesen Moment vollkommener, süßer Schwerelosigkeit – und dann: Der Kontakt.
Kein Krachen. Kein Splittern. Mein Körper reagiert schneller als mein Bewusstsein. Zuerst ist da diese Meldung der Zunge: Alarmstufe Rot. Inmitten von Sahne, Teig und den Eindrücken des letzten Ausflugs tastet sie diesen kleinen, glatten, unnachgiebigen Fremdkörper ab. Ein blinder Passagier in meiner Genusszone.
Und dann folgt die chirurgische Perfektion: Meine Zähne schließen sich. Sie senken sich durch den weichen Teig, tiefer und tiefer, bis sie – genau einen Millimeter vor der Katastrophe – auf den Widerstand treffen. Es ist eine Vollbremsung auf Samt. Meine Kiefermuskulatur erstarrt in perfekter Isometrie. Ich beiße nicht zu. Ich halte ihn nur fest. Ich fixiere den Verräter zwischen den Schneidezähnen wie in einem Schraubstock aus Emaille.
Ich öffne die Augen. Am Tisch herrscht plötzlich Stille. Die Kaffeelöffel stoppen auf halbem Weg. Die Gesichter meiner Familie richten sich auf mich – aber niemand lacht. In ihren Augen liegt dieses fassungslose Staunen. Eine tiefe, ehrfurchtsvolle Ungläubigkeit, die nur entstehen kann, wenn man sich schon ewig kennt. Sie schauen auf meinen Teller, dann in mein Gesicht. „Sag mal… hast du etwa schon wieder einen?“, werde ich leise gefragt.
Sie haben zusammen elf Stücke puren Frieden verspeist. Aber sie wissen: Die Mathematik hat heute einen anderen Plan. Ich bin der statistische Fixpunkt dieser Familie. Elf mal hat das Schicksal gewürfelt – und bei mir blieb die Kugel liegen. Schon wieder.
Man sagt, in manchen Kulturen ist der Kern im Kuchen ein Zeichen für Glück. In meiner Welt bin ich der unangefochtene Seismograph für die kleinen Tücken der Handarbeit. Ich bin der Blitzableiter für diesen einen, winzigen Moment, in dem die Aufmerksamkeit beim Entkernen kurz woanders war. Vielleicht bin ich der Auserwählte. Derjenige, dessen Sensorik fein genug ist, um die Wahrheit zu spüren, noch bevor das Schicksal zuschlagen kann.
Ich befördere den kleinen Stein dezent auf den Rand meines Tellers. Das leise „Pling“ auf dem Porzellan klingt wie ein Gongschlag in der Stille. Er glänzt mich höhnisch an. Ich stoppe den Biss, damit die Welt im Gleichgewicht bleibt. Ich bin der statistische Anker der Kaffeetafel.
Also, genießt eure weichen Stücke. Zeigt mir weiter eure Fotos und erzählt eure Geschichten. Seid unbesorgt. Denn solange ich mit euch am Tisch sitze, habt ihr nichts zu befürchten. Ich werde ihn finden. Egal wie tief er vergraben ist. Ich spüre für euch die Härte im System – und ich lasse sie nicht gewinnen.
Denn ich bin der Mann mit dem Kern. Und während ihr noch staunt, habe ich das Geheimnis der Torte schon längst zwischen den Zähnen.


